Der Abendhimmel färbte sich langsam orange und die Dämmerung
begann, als der junge Mann, bedächtig, in sich gekehrt die Kirche verließ. Das
dunkle Licht innerhalb des Stephansdomes glich nun dem Dämmerlicht auf den
Straßen. Alles war eingehüllt in ein abgedämpftes, schweres Element, das all
das Laute, Schreiende des Tages zudeckte.
Er war erst vor ein paar Tagen nach Wien gekommen. Voller
Hoffnung, Ahnung, Bedrängnis. Weg von seinem gewohnten, alltäglichen Leben
wollte er den großen Atem der Stadt spüren. Er glaubte, wenn er in dem Rhythmus
dieser Stadt wie in einen größeren Atem eintauchen konnte, eine Antwort auf
seine Frage zu bekommen, die ihn nun schon so lang begleitete, immer
drängender, deutlicher und präsenter wurde.
Ziellos, aber innerlich ruhig schlenderte er durch die
abendlichen Gassen von Wien. Wohin?
Musste er sich immer zielorientiert bewegen? Konnte er nicht
einfach gehen, mit offenen Sinnen und all das, was um ihn herum lebt, einfach
aufnehmen?
Sich selbst nur spüren als Teil eines Geschehens, das gerade
passiert? Ohne Intention, ohne Willensimpuls, nur Dasein, einfach Raum und Zeit
an sich vorbeiziehen lassen.
Er gab diesem Impuls nach, veränderte sein Tempo und hörte
mit seinen Ohren in die Geräusche, die ihn umschwirrten. Sein Tastsinn legte
sich wie Tentakel in die Umgebung und ließ ihn manchmal einen Schauer spüren,
einen kühlen Luftzug, unterschiedlichste Gerüche oder auch mal deftig den Stoß
eines Passanten, der seinen Weg kreuzte. Seine Augen tauchten ein in die eine
große Bewegung, als die diese Stadt plötzlich erschien und er selbst nahm sich
als Teil dieser einen Bewegung wahr.
Für eine kurze Zeit war er ganz aufgelöst in diesem
Getriebe, weit weg von sich selbst und seiner Frage. Dieses Eintauchen in den
Umkreis, in das, was ihn umgab, löste etwas in ihm. Er fühlte sich leichter,
dazu gehörend, aufgenommen. Er gehörte zu diesem ständigen Strom an Bewegung
und Geräuschen einfach dazu.
Ein fremdes Gefühl, nach all dem Lastenden und Isolierenden,
das seine Frage in sich trug.
Wie würde er sich entscheiden? Musste er sich entscheiden?
Ja, etwas in ihm wusste, dass er an einem Punkt angekommen
war und er eine Richtung wählen musste.
Ihm war klar, in dieser Wahl ist ein Verlust enthalten.
Dasjenige, was er nicht wählte, gehörte dann nicht mehr zu ihm, verneinte er.
Dieser Aspekt bereitete ihm große Schwierigkeiten. So lange schon vermied er es diese
Entscheidung zu treffen, weil dieses „Nein“ Angst machte. Was lag noch alles
vor ihm und wie würde es sich auswirken, nachdem er die Wahl getroffen hat?
Das schummrige Licht eines alten Cafés in einer Seitengasse,
abseits der Touristen und der Hektik der Stadt, lud ihn ein, einzutreten. Er
setzte sich an einen der kleinen, runden Tische und bestellte eine Tasse Kaffee.
Am Nebentisch saß ein alter Mann, lass in seiner Zeitung und doch starrte er
irgendwie entrückt vor sich hin.
Der junge Mann bat ihn um den Zuckerstreuer und als sich
ihre Blicke begegneten, durchfuhr ihn plötzliche Klarheit, die von milder Wärme
getragen war. Wie ein Gespräch war dieser Blick und die Augen des alten Mannes
erzählten von einem langen, anstrengenden Leben. Einem Leben voller
Entbehrungen, Freuden, Verlusten, Gewinnen.
Sie erzählten von tiefer Liebe und großer Enttäuschung und
von einem Reichtum, einer Fülle, jenseits von Besitz.
Still, ruhig und doch lebendig strahlend blickte der Alte
über den Tisch hinweg in die Seele des Jungen. Oder blickte seine in die Seele
des Alten? Oder war dort, wo diese Blicke ineinander gingen, ihre Seele eine
Einzige? Jung und Alt zugleich. Mit all der Erfahrung der Vergangenheit und all
dem noch nicht Gelebten der Zukunft?
Der junge Mann erkannte in diesem Augenblick, dass er keine
falsche Entscheidung treffen konnte. Egal, welche Richtung er einschlug, immer
würde dort etwas auf ihn warten. Etwas, das erfahren werden konnte, entwickelt
und gestaltet. Für jeden Verlust, für jedes „nicht Gewählte“ gibt es ein anderes,
Neues, ebenso Wichtiges.
Es öffnete sich in dem jungen Mann ein innerer Raum, der
unendlich erweiterbar wurde.
Die Frage war noch nicht beantwortet, aber die Last der
Entscheidung war gewichen.
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