Der kleine Junge

"Ich will jetzt ein Eis!"

Ich sehe mich um. Neben mir steht ein kleiner Junge und schaut frech zu mir hoch. Weißblonder Haarschopf, schätzungsweise vier Jahre alt. Seine Brille und dann dieses rot-schwarz gestreifte Kurzarm Shirt und Latzhose erinnerten mich irgendwie an jemanden, ich konnte nur den Gedanken nicht direkt fassen und zuordnen.

"Du willst ein Eis?"
"Ja - jetzt - SOFORRRRT!"
"Aber das geht doch nicht", sag ich zu dem Kind.
"Klar geht das - los, hol mir ein Eis. Schwarzer Teller mit gaaanz viiiel Schlagobers!"
"Schwarzer Teller? - Was soll denn das für ein Eis sein?" frage ich ratlos.
"Na das mit den Schokostücken drin!"
"Ach, du meinst Stracciatella?"
"Jaaa, genaaau!" – Der kleine junge strahlt mich an.

"Du, das geht jetzt wirklich nicht", sag ich. "Ich muss die Umsatzsteuererklärung fertig machen. Und dann muss ich noch aufräumen, und dann noch die Email an ..."
"Blödsinn, alles Blödsinn Blödsinn Blödsinn!" sagt er.
Er hat ja recht, aber machen muss ich diesen Blödsinn trotzdem, da hilft alles nichts.

"Kuck mal, die Sonne scheint, und es ist so schön warm draußen, da brauch ich doch jetzt'n Eis!" sagt der Kleine und schaut mich intensiv an mit seinen großen braunen Augen hinter der Brille.
Hm. Das passt mir jetzt gar nicht in den Kram. Aber ganz unrecht hat er nicht, und er strahlt so fröhlich. Wer könnte bei einer solchen fröhlichen Bitte etwas abschlagen?

"Also gut", sag ich, "dann geh'n wir halt jetzt Eis essen".
"Juchhuuu!" Der Kleine ist aufgeregt, tanzt vor Freude um mich rum.
Ich ziehe mich um, schlüpfe in mein Sakko, mache mich zurecht, während der junge Mann ungeduldig hin und her wuselt.

Dann schlendern wir die Straße runter, Hand in Hand. Die Sonnenstrahlen sind angenehm warm auf der Haut. Fühlt sich in der Tat besser an als daheim hocken und Quittungen sortieren.
Und auf einmal krieg ich so'nen Flash - als hätte mir jemand mal eben schnell ein Päckchen Glücksgefühle geschickt, einfach so. Obwohl ich sie gar nicht bestellt hatte. Solche Gratis-Lieferungen liebe ich!

In der Fußgängerzone zerrt mich der kleine zu dem im Freien stehenden Kleiderständer einer Herren Boutique.
"Kuck mal, da ist schööönes Hemd für Dich!"
Ja, er hat recht. Aber ich habe derzeit kein Geld für sowas.
"Mensch, Du musst das ja nicht kaufen", meint der junge. "Aber mal anprobieren, und die Jacke hier, und da, der rote Pullover, und kuck mal, das gelbe Hemd .... aaaah, ich mag gelb!"

Mit zwölf Teilen im Arm gehen wir in den Laden, runter in den Umkleideraum. Das Anprobieren macht großen Spaß, auch wenn ich mich aus Geldgründen gegen die Sachen entscheide. Aber das gelbe Hemd ist ein Volltreffer. Runtergesetzt auf 20 Euro. Darin sehe ich aus wie ein König! Das nehme ich mit und ziehe sie auch gleich an.

Dann gehen wir Eis kaufen. Unterwegs ruft jemand "Franz!"
Eine Bekannte vom Kulturverein winkt fröhlich zu mir rüber. Das ist allerhand - die ist sonst nämlich eher reserviert mir gegenüber, ja, ich hatte immer eher den Eindruck, sie mag mich nicht.
Ich winke erfreut zurück.
Überhaupt - mir fällt auf, dass mich jetzt schon mehrere Leute, die ich gar nicht kenne, angelächelt und gegrüßt haben. Ob das an dem lachenden Zwerg neben mir liegt?

Das Eis, eigentlich nur eine Kugel, aber mit Sahne, fällt riesig aus. Der Verkäufer scheint verzaubert zu sein von dem Kleinen. Dann will ich zurücklaufen, die Umsatzsteuer sitzt mir im Nacken. Mein Steuerberater ist eh wie ein Höllenhund namens Cerberus.

"Nööö!", sagt der Kleine, "wir setzen uns jetzt mal einfach da hin und essen in ruhe das leckere Eis."
"Das ist Zeitverschwendung", sag ich, "du kannst dein Eis genauso gut beim Laufen essen."
Aber der Wirbelwind hat sich schon auf der Bank vorm Brunnen platziert, und mir bleibt nichts anderes übrig, als mich neben ihn zu setzen. Ich kann ihn doch hier nicht einfach so alleine lassen. So ein zartes, kleines Wesen, so fröhlich, so unbedarft. Frech, auch unheimlich lieb und voller Lebensfreude.

Wir sitzen also auf der Bank in der Sonne, verschwenden die Zeit und schlecken Eis. Ich habe Schlagobers auf der Wange. Es macht mir nichts aus, ich schäme mich nicht, wie sonst bei sowas, streife die Sahne genüsslich ab und schlecke sie noch genüsslicher vom Finger.

Das Eis ist alle. Der kleine Junge springt auf und ruft: "Und jetzt gehen wir da rein!" Und schon hüpft er in Richtung Kirche. Romanischer Stil in Rotsandstein, aber die Fenster laufen oben spitz zu, also doch auch ein bisschen gotisch. Oder wie war das noch mal? Ach egal.

Ich brülle Ihm hinterher: "Das kannst vergessen, Kirchen sind tagsüber immer zu!"

"Das glaub ich nicht, das glaub ich nicht", trällert der Kleine vor sich hin.

Aha, ungläubig ist er auch noch, was will er dann in der Kirche, denke ich, aber ich laufe ihm halt hinterher. Auf die Viertelstunde kommt es jetzt auch nicht mehr an. Da ich ja so oder so immer auf Motivsuche bin für mein Online Bilderalbum, hole ich schon mal mein Handy heraus, für den Fall der Fälle.

Die Kirchentür lässt sich in der Tat öffnen! Wie oft schon bin ich an dieser Kirche vorbeimarschiert, hätte gern mal reingeguckt, um die bunten Fensterscheiben von innen zu betrachten, dachte aber dann immer, die hat eh geschlossen, brauch ich erst gar nicht probieren. Tja, wer ist hier nun der Ungläubige ... ?

Drinnen im Vorraum. Der Zwerg hält mir ein Teelicht entgegen: "Zündest du das mal an?"
50 Cent für ein dämliches Teelicht, hm. Ich zögere.
Er sagt: "Da kannst Dir dann was wünschen, und ich mir auch, und das kriegen wir dann auch, weißt Du?!"

Ich kann seinem ausgelassenen, naiven Charme einfach nicht widerstehen und opfere mein blitzblankes, funkelnagelneues 50-Cent-Stück, das ich eigentlich in meine Münzsammlung geben wollte.

Dann stehen wir da und wünschen uns was.
"Pschschscht!" lässt der Kleine vernehmen, "das dürfen wir nicht laut sagen, was wir uns wünschen, das ist streeeengggg GEHEIM!"

Und als wir so dastehen, in das Licht der Kerze schauen, der blonde kleine Junge und ich, und uns was wünschen - da fällt auf einmal alles von mir ab, was mich in den letzten Tagen so belastet hat. Die beruflichen Sorgen, der Stress, die vielen anstrengenden Kundentermine, die Arztbesuche in letzter Zeit, der zu erledigende Papierkram, Anwaltstermine - all die Pflichten, die mir über den Kopf zu wachsen drohen.

All das ist auf einmal weit weg, es zählt nur noch das Jetzt und ein Gefühl der Freude und Dankbarkeit für diesen Moment.

Auf dem Heimweg frage ich den kleinen Jungen.
"Sag mal, wer bist'n du eigentlich?!
"Menschhhhhh - weißte denn das nicht?"
"Nein".
"Du bist aber ganz schön dooof!" sagt er und lacht verschmitzt.
"Woher soll ich denn wissen, wer du bist? - Ich habe Dich doch vorher noch nie gesehen ..."
"Ja ja, das habe ich gemerkt, dass du mich NIE beachtest - doof, doof, doof, ich sag's ja. Dabei bin ich schon soooo lange bei dir!"
"Äh - wie jetzt? Und überhaupt - du bist doch gerade mal höchstens vier Jahre alt ..."
"Nööö, stimmmmmtttt gar nicht - ich bin schon fast FÜMF!"
Stolz präsentiert er mir die gespreizten Fingerchen seiner rechten Hand.
"Na gut, dann fünf. Aber ich bin ja schon fast zehnmal so alt wie du", sag ich, "also kannst du doch gar nicht schon quasi fast immer bei mir sein ..."

Der Kleine schaut mich lange an mit seinen großen braunen Augen.

Und plötzlich erkenne ich Ihn.

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