Mut - eine persönliche Geschichte voller schmerz

Mein Opa und ich
Mein Großvater war ein Mensch, der liebevoll und streng sein konnte. Ich hörte ihm als Kind immer gerne zu, wenn er Geschichten aus der Zeit des zweiten Weltkriegs erzählte. Er erzählte von seinem Pferd mit dem er in Russland unterwegs war und über die Begegnungen mit den Russischen Soldaten. Nein es waren keine Horrorgeschichten, vielmehr erzählte er mir die Dinge die ihn bewegt hatten und die ihn an dem ganzen Irrsinn von damals zweifeln haben lassen. Er war auch einige Jahre in Gefangenschaft, aufgrund seiner kleinen Russischkenntnisse konnte er die Zeit überstehen, und auch weil er sich mit ein paar Aufseher angefreundet hatte und mit ihnen Schach gespielt hat.


Ich war noch relativ jung, so um die 10 Jahre alt, da stellte ich ihm die Frage „Opa, was ist Mut?“, möchte der kleine Junge mit den roten Wangen wissen und blickt zu seinem alten Großvater auf.

Ich sah ihn überlegen, dann schob er seine Lesebrille auf den Nasenrücken und sah mich intensiv an, er sah meine Neugierde, dann setzte er zur Antwort an. „Was Mut ist, möchtest du wissen?“, wiederholte er die Frage von mir, ich nickte eifrig. „Ich habe schon von so vielen Geschichten gehört, in denen es um Ritter geht, die Prinzessinnen retten, Helden, die einen gesamte Planeten vor Katastrophen bewahren, oder von Abenteurern, die Goldschätze entdecken. Doch wenn du mich fragst, ist diese Art von Mut nicht die einzige.“

Irgendwie war ich nun gespannt auf seine Antwort, ich musterte ihn, diesen alten Mann der schon so viel erlebt hatte, der immer wieder Geschichten erzählen konnte und der für mich ein Held war, weil er das alles aus der Vergangenheit überlebt hatte. Ich kletterte zu ihm auf das Bett wo er immer gelegen hatte. „Welche Art von Mut gibt es denn noch, Opa?“

Er legte seine schrumpelige Hand auf die meine, und schaute mich ganz genau an, er blickte mir fest in die Augen. „Mein Junge, das werde ich dir kein zweites Mal erzählen. Darum höre gut zu!“

Mit meinem Blick und meiner Art voller Ungeduld nickte ich und lauschte aufmerksam den Worten meines Opas. „Du musst wissen, das Leben ist nicht immer einfach. Oft stellt es uns große Brocken in den Weg, die uns stoppen und zum Stolpern bringen. Kriege, der Verlust eines geliebten Menschen oder eine unerwartete schlechte Nachricht. Solche Momente möchte man am liebsten vergessen, da sie immer fürchterlich schmerzhaft sind. Sobald man einen dieser Brocken vor sich liegen sieht, weiß man, dass das Herz bald brechen wird. In solchen Zeiten kommt dann der Mut ins Spiel. Es braucht unfassbar viel davon, um sich zu überwinden und einen neuen Weg einzuschlagen, der an dem Brocken vorbeigeht. Oft verliert man sich dabei in einer unendlichen See aus Trauer oder einem finsteren Wald, der einen droht zu verschlingen. Aber man findet immer wieder zurück auf seinen ursprünglichen Weg, der einem sicher ans Ziel führt. Mut kann aber auch bedeuten, dass man ehrlich ist. Seine eigenen Fehler einzugestehen benötigt noch ein bisschen mehr Mut als einen neuen Weg einzuschlagen, denn sobald die anderen Menschen in dieser Welt erkennen, dass man nicht perfekt ist, ist man sogleich schwächer als alle anderen. Den Mut aufzubringen all die wertenden Stimmen auszublenden und dennoch erhobenen Hauptes durch die Welt zu spazieren, ist eine Prüfung, die vermutlich der tapferste Abenteurer nicht immer übersteht. Mut ist so vieles.“

Die Augen meines Großvaters wurden in diesem Moment wässrig und ich konnte erkennen das ihn etwas belastete, er wendete seinen Blick ab. Damals konnte ich noch nicht wirklich darauf antworten, aber seine Worte sind mir im Gedächtnis geblieben. Heute könnte ich ihm eine Antwort darauf geben, denn ich habe lernen müssen wir recht er mit seinen Worten hatte. Heute könnte ich folgendes sagen „Ich denke, ich weiß, was du sagen möchtest. Ich war auch schon sehr mutig. Als meine kleine Tochter gestorben ist, habe ich mich getraut, ihr ein letztes Mal am Grab zu sagen, dass ich sie liebhabe, und das sie in meinem Herzen immer einen Platz haben wird, obwohl ich mich so sehr davor gefürchtet habe. Ist das Mut, Opa?“

Ja Opa du durftest die kleine Anisa noch im Arm halten, kurz darauf bist du gestorben, nur ein paar Monate später hat sie sich auf den Weg zu dir gemacht. Ich weiß ihr beide sitzt dort oben, und auch sie stellt dir immer wieder die eine oder frage und du versuchst ihr diese zu beantworten. Du erzählst ihr die eine oder andere Geschichte.

Dann schließe ich die Augen und höre in Gedanken seine Antwort und sehe sein Gesicht.

Eine stumme Träne kullert meinem Großvater die Wange hinab, als er kaum merklich nickt. „Ja, mein Junge, du hast Recht! Das ist Mut!“



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